Sonntag, 25. Dezember 2011

Die anonyme Masse

Wochenlang war Kuh Yvonne auf der Flucht. Einsam und alleine schlug sie sich durch den Wald. Trotz ihrer Unerfahrenheit, sie verbrachte ja ihr ganzes Leben in Gefangenschaft, kommt sie nicht nur prima klar, sie schafft es auch, sich sich den Menschen völlig zu entziehen. Das deutsche Volk ist begeistert und zu den ersten Amtshandlungen gehörte, dass die bislang namenlose Kuh einen Namen bekam. Jetzt ist sie nicht mehr anonym, so wie all ihre Art- oder besser Leidensgenossinnen, die ihr kurzes Leben meist in engen, dunklen Ställen verbringen. Für die interessiert sich leider niemand. Die Leute finden Yvonne toll und solidarisieren sich mit ihr. Warum sie fortgelaufen ist, fragen sie nicht. Yvonne ist fortgelaufen, weil sie unglücklich war und nicht so weiterleben wollte. Millionen Kühen in Deutschland geht es genauso. Die sind aber anonym, sie haben keinen Namen und nur wenige setzen sich für sie ein.


In dem Moment, wo jemand einen Namen bekommt, ist er nicht mehr etwas, sondern jemand.

Vor ein paar Tagen ist eine weitere Kuh geflüchtet, Dina, die mittlerweile auf Hof Butenland ein gesundes Bullenkälbchen zur Welt gebracht hat.  Bei Facebook wurde nach einem Namen gesucht und ständig gab es neue Fotos und Videos. Ich glaube, kein Kuhbaby in Deutschland hatte jemals mehr Aufmerksamkeit.  Wer würde es noch fertig bringen, Dina ihren kleinen Jungen wegzunehmen? Kaum jemand mag daran denken, dass der Kleine mittlerweile von seiner Mutter getrennt wäre ,wäre seine Mama nicht abgehauen. Tag für Tag geschieht dieses schreckliche Unrecht und niemanden interessiert das unendliche Leid der anonymen Kühe und ihre Kinder. Ohne Namen, ohne Öffentlichkeit sind sie nicht jemand, sondern etwas.

Vor ein paar Tagen habe ich Madagascar gesehen. Ein Löwe, eine Nilpferddame, eine Giraffe und ein Zebra sollen nach ihrem missglückten Ausbruch aus dem New Yorker Zoo per Schiff in ein Wildreservat gebracht werden. Sie gehen aber alle über Bord, stranden auf Madagascar und lernen eine größere Gruppe Lemuren kennen, die sich vor den Foosa fürchten, weil die sie fressen wollen. Löwe Alex kann sie verjagen. Bis auf Alex sind alle Tiere, auch die Lemuren, Pflanzenfresser. Alex wurde bislang im Zoo mit Steak gefüttert und wird auf der Insel hungrig. Pflanzen schmecken ihm nicht. Nach einigen Tagen ohne Nahrung wird ihm schwindelig vor Hunger und er sieht alle anderen Tiere als Steaks. Nachdem er die Besinnung verliert und im Rausch seinem besten Freund Zebra Marty in den Hintern beißt, verlässt er die anderen, weil er ihnen nicht weh tun will. Er begibt sich ins Gebiet der Foosa. Seine Freunde wollen sich nicht damit abfinden und begeben sich ebenfalls in das gefährliche Foosagebiet (fleischfressende Tiere werden interessanterweise durchgängig negativ dargestellt.). Die Lösung des Problems ist, dass eine ebenfalls entflohene Gruppe Pinguine Alex Fischhäppchen zubereitet, die er mag. Hier komme ich wieder auf die anonyme Masse zurück. Löwe Alex sitzt mit seinen Freunden am Tisch, alle essen Pflanzen, er isst Fisch und alle sind glücklich und niemand hat Angst, von Alex gefressen zu werden. Das funktioniert aber nur, weil die Fische anonym sind. Man kennt sie nicht, sie haben keine Namen, man hat sie nie lebend gesehen. Hätte man gezeigt, wie Nemo und sein Vater durchs Meer schwimmen und vielleicht noch versuchen, Fangversuchen zu entgehen, hätte es nicht mehr funktioniert. Die Zuschauer hätten sich mit den Fischen solidarisiert. Sie wären entsetzt gewesen, wenn Alex Fisch gegessen hätte.